Tschechen gespalten in Beurteilung der Wende

Im November 1989 demonstrierten viele Hunderttausend Menschen auf der Letná-Anhöhe in Prag für den politischen Wandel (Foto: ŠJů, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)

In knapp vier Wochen feiert Tschechien den 30. Jahrestag der Samtenen Revolution. Doch nicht alle Menschen hierzulande sind in Jubelstimmung, wenn sie die Entwicklung nach 1989 beurteilen sollen. Ganz im Gegenteil ist die tschechische Gesellschaft sogar sehr gespalten in ihrer Meinung zum politischen Wandel nach dem Ende des kommunistischen Regimes. Dies zeigt eine aktuelle Umfrage.

Im November 1989 demonstrierten viele Hunderttausend Menschen auf der Letná-Anhöhe in Prag für den politischen Wandel  (Foto: ŠJů,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0)
Im November 1989 demonstrierten viele Hunderttausend Menschen auf der Letná-Anhöhe in Prag für den politischen Wandel. Spätestens da hatten sie ausgedient, die kommunistischen Machthaber in der damaligen Tschechoslowakei. Freiheit und Wohlstand waren die vielleicht größten Ideale, von denen die Protestbewegung getragen wurde. Doch gerade ältere Menschen im heutigen Tschechien sehnen sich anscheinend nach den Zeiten vor der Samtenen Revolution zurück. Laut der Erhebung von NMS Market Research glaubt hierzulande mehr als ein Drittel der Menschen über 40 Jahre, dass es im Sozialismus besser gewesen wäre. Dazu der Meinungsforscher Stanislav Radocha in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:

„Diese Ansicht haben eher Menschen mit niedrigen Schulabschlüssen oder praktischer Berufsausbildung. Bei jenen mit Hochschulbildung gibt es sie bedeutend weniger. Zudem lässt sich allgemein sagen, dass die Gruppe der Menschen mit Hochschulabschluss respektive die jüngeren Umfrageteilnehmer die derzeitige Lage positiver sehen und stattdessen eine kritischere Einstellung zur Zeit vor der Samtenen Revolution und zu den Überbleibseln des Kommunismus haben.“

Mikuláš Kroupa  (Foto: Martina Schneibergová)
Von den 1000 Befragten war etwa die Hälfte älter als 40 Jahre. Die Erhebung wurde vom Projekt Paměť národa (Volksgedächtnis) in Auftrag gegeben. Dieses sammelt die Lebenserinnerungen von Zeitzeugen aus dem 20. Jahrhundert. Daran beteiligt sind der Verein Post bellum, der Tschechische Rundfunk und das Institut zum Studium totalitärer Regimes in Prag. Der Journalist Mikuláš Kroupa leitet Paměť národa:

„Die jungen Leute stört zum Beispiel, dass die Kommunistische Partei immer noch im Parlament sitzt, die älteren hingegen nicht so sehr. Die tschechische Gesellschaft ist bis zu einem gewissen Grad dadurch beschädigt, dass die Verbrechen des Kommunismus nicht juristisch aufgearbeitet wurden. Die Gerichtsverfahren dazu haben untragbar lange gedauert.“

Das hat sich gerade vergangene Woche wieder gezeigt. Erst jetzt wurde Pavel Wonka rehabilitiert, der als das letzte Todesopfer kommunistischer Justiz gilt. Die Richterin, die ihn vor 30 Jahren verurteilte, ist weiterhin am selben Gericht tätig. Wenn man alle Altersgruppen nimmt, dann äußerte ein knappes Drittel die Ansicht, dass Tschechien seine kommunistische Vergangenheit noch nicht aufgearbeitet habe.

Wie die Samtene Revolution das Leben der Menschen verändert hat?  (Foto: Martina Schneibergová)
Bei der Erhebung wurden die Menschen auch danach gefragt, wie die Samtene Revolution ihr Leben verändert hat. Nur ein Drittel der Tschechen über 40 Jahren fand, dass es für sie besser geworden sei. Unter anderem sei der Lebensstandard gestiegen, heißt es von vielen. Ein Viertel von ihnen behauptet jedoch, dass sich nichts geändert habe.

„Viele Bürger dieses Landes haben die Hoffnung verloren, dass sich die Versprechungen erfüllen, die unmittelbar nach der Samtenen Revolution gemacht wurden. Dazu gehörte etwa, dass wir schon bald hier Löhne wie in Westdeutschland haben würden und dass Gerechtigkeit in die Justiz einzieht. Diese Hoffnungen haben sich laut der Umfrage aber zerschlagen“, so Mikuláš Kroupa.

Die Folge sind zum Teil Ernüchterung oder sogar Resignation unter den Menschen hierzulande. Dennoch gibt es Errungenschaften seit der politischen Wende von 1989, über die sich alle freuen. Stanislav Radocha von NMS Market Research:

„Sowohl die Jüngeren als auch die Älteren schätzen es sehr, frei reisen zu können. Aber das Wertvollste für beide Gruppen ist die Möglichkeit, ohne Angst die eigene Meinung sagen zu können.“