6) Neue Ära des tschechischen Animationsfilms: „Alois Nebel“ und „Daughter“
In unserer Serie zum tschechischen Animationsfilm haben wir bisher in die Geschichte zurückgeblickt. In der aktuellen Folge stellen zwei herausragende Trickfilme des 21. Jahrhunderts vor.
Ein leiser und langsamer Schwarzweißfilm in melancholischem Ton. So wird der Film „Alois Nebel“ beschrieben, der 2011 herausgekommen ist. Der Streifen beruht auf der gleichnamigen Graphic Novel der Autoren Jaroslav Rudiš und Jaromír 99 (Pseudonym von Jaromír Švejdík). Es ist das Regiedebüt von Tomáš Luňák. Der Film wurde mithilfe der Rotoskopie-Technologie erstellt und hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Tschechien hat das Werk sogar für den Oscar in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ nominiert.
Die Handlung spielt in der Tschechoslowakei im Herbst 1989. Die Hauptfigur Alois Nebel ist ein pensionierter Eisenbahner im abgelegten Bahnhof Bílý Potok und ein stiller Einzelgänger. Während der Samtenen Revolution erlebt er eine schwere Phase. Von Zeit zu Zeit wird er von einem seltsamen Nebel überwältigt, in dem ihm Dorothee erscheint – sie ist eine der vertriebenen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. „Die Suche nach dem Leben im Nebel“, so beschreibt der Autor sein Buch:
„Alois Nebel arbeitet in einem kleinen Bahnhof im Altvatergebirge im Sudetenland. Durch seine Station fahren Züge, die die Last des vergangenen Jahrhunderts befördern. Der Fahrtdienstleister leidet an Halluzinationen. Ich habe mir die Geschichte zusammen mit dem Künstler Jaromír 99 in den Jahren 2003 bis 2005 ausgedacht und sie wurde als Buch in drei Bänden veröffentlicht. Wir waren sehr überrascht, dass sie ankam und die Tschechen lernten, Comic zu lesen. Wir dachten damals, wir würden ein paar hundert Stück verkaufen und den Rest verschenken müssen. Als wir das erste Angebot einer Verfilmung bekamen, war unsere Bedingung, dass es sich um einen Comic-Streifen handeln muss.“
Die Verfilmung trug allerdings ein Risiko in sich, da es im tschechischen Kino nur wenige Beispiele für die Verarbeitung eines Comics im Film gibt. Václav Vorlíček bahnte in seiner Science-Fiction-Komödie von 1966 „Who Wants to Kill Jessie“ den Weg. Ansonsten haben sich aber tschechische Regisseure nur wenig für Comics begeistert.
Comic im Film
Für die Verfilmung von Alois Nebel sorgte letztlich Filmregisseur Tomáš Luňák. Er hat an der Filmschule in Zlín und der Filmhochschule Famu in Prag studiert. Das Ergebnis ist eine Schwarz-Weiß-Produktion, die an der Grenze zwischen Spiel- und Animationsfilm liegt. Gegenüber Radio Prag International erläutert der Regisseur die Unterschiede zwischen seinem Streifen und der Buchvorlage:
„Unsere Hauptfigur spricht weniger. Die Hauptfigur im Buch und die gesamte Graphic Novel sind sehr literarisch, die literarische Sprache von Jaroslav Rudiš sehr opulent. Wir haben versucht, im Film den Kern zu treffen. Wir wollten sozusagen einen nordischen Film machen, in dem nicht viel geredet wird. Dahin sind wir nach und nach gekommen. Die erste Version des Drehbuchs lag noch näher am Buch. Nebel war dort größtenteils ein Erzähler. In unserem Film ist er jedoch viel mehr ein Beobachter und gleichzeitig ein Medium, das die Energie seiner Region absorbiert. "
Eben auf die Gegend des Altvatergebirges und ihre Geschichte hat sich Tomáš Luňák konzentriert:
„Man sollte daran erinnern, dass die Bewohner des Altvatergebirges damals zu 80 Prozent Deutsche waren. Wenn ein solcher Teil der Bevölkerung plötzlich verschwindet, muss etwas passieren. Es kamen neue Menschen. Die Tatsache, dass dort die Bevölkerung ausgetauscht wurde, ist meines Erachtens ein sehr wichtiges Thema für diese Gegend. Ich wollte mich aber nicht mit politischen Fragen befassen. Wir wollten im Film vielmehr vom Genius Loci der Region erzählen."
Die Verwandlung Alois Nebels vom Buchcharakter zur Filmfigur habe zwei Jahre gedauert, sagt Tomáš Luňák. Bei der Umsetzung wurde eine spezielle Methode der Rotoskopie genutzt. Jaroslav Rudiš beschreibt das Vorgehen:
„Der Film wurde zuerst als klassischer Videofilm mit Schauspielern gedreht. Der Regisseur und eine Gruppe von Animatoren haben diesen dann mit der Methode der Rotoskopie abgezeichnet. Der Film sieht schließlich wirklich wie ein Comic aus, genau wie Jaromír 99 und ich es wollten. Hinter den animierten Bildern lassen sich die Schauspieler erkennen. Der Film macht einen starken Eindruck und ist auch visuell sehr beeindruckend.“
Die Schöpfer des Films riskierten viel, als sie sich künstlerisch auf eine Abenteuerreise begaben. Doch „Alois Nebel“ wurde von den Kritikern genau dafür gelobt. Es hieß, die Umsetzung sei bahnbrechend und hauche dem Animationsfilm neues Leben ein. Zugleich bemängelten einige Kritiker, dass die Handlung „manchmal unleserlich“ sei.
Abzeichnung von Filmaufnahmen
Der Film sei in Zusammenarbeit dreier Staaten gedreht worden, erwähnt Luňák.
„Es freut mich sehr, dass er in tschechisch-deutsch-slowakischer Koproduktion entstanden ist. Darin wird das Unrecht des 20. Jahrhunderts – der Exodus, die Vertreibung – thematisiert. Das ist meiner Meinung nach ein mitteleuropäisches Thema.“
„Alois Nebel“ feierte seine Weltpremiere 2011 auf dem Filmfestival in Venedig und wurde auch beim IFF in Toronto gezeigt. Er erhielt die tschechischen Filmpreise „Böhmischer Löwe 2012“ in drei Kategorien. Im selben Jahr wurde er mit dem European Film Award als bester Animationsfilm des Jahres ausgezeichnet.
Der Puppenfilm „Daughter“ der 35-jährigen Regisseurin Daria Kashcheeva erzählt ohne Worte von der Zerbrechlichkeit der Eltern-Kind-Beziehungen. 2019 wurde er mit dem Oscar für Studenten als bester internationaler Animationsfilm ausgezeichnet. Die Regisseurin, Drehbuchautorin und Studentin der Prager Famu hat damit angeknüpft an die Erfolge von Jan Svěrák, dessen Film Ropáci die US-amerikanische Film-Akademie 1989 auszeichnete, und Marie Dvořáková, die 2017 den Preis für ihr Filmstück „Who's Who in Mykologie“ erhielt. Zudem wurde Kashcheeva für den klassischen Oscar 2020 nominiert.
Von der Auszeichnung mit dem Studenten-Oscar erfuhr Daria Kashcheeva am Vorabend ihres Bachelor-Abschlusses an der Filmhochschule in Prag.
„Natürlich war ich glücklich, ich konnte nicht glauben, dass ich einen Oscar gewonnen habe. Ich war sehr glücklich, als mein Film nominiert wurde, aber ich hatte nicht erwartet, dass die Akademie einen Puppenfilm küren würde. 3D-Filme oder Computeranimationen sind in Amerika beliebter. Daher habe ich dies als große Ehre empfunden.“
Puppenfilm über Eltern-Kind-Beziehung
Im Film geht es um die schwierige Beziehung zwischen einem Mädchen und seinem Vater. Das Mädchen bringt einen verletzten Vogel mit nach Hause. Beim Vater stößt die Tochter aber nur auf Gleichgültigkeit und Ablehnung. Sie schließt sich in ihre innere Welt ein. Der von Schuldgefühlen geplagte Vater versucht, einen Weg zu seiner Tochter zu finden und das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen.
Die Produktion des 15-minütigen Films nahm anderthalb Jahre in Anspruch. Eigentlich entstand er als Bachelor-Arbeit von Daria Kashcheeva. Sie schrieb das Drehbuch, übernahm die Regie, sorgte für die Animation und auch für den Ton.
„Der Film erzählt zum Teil von mir. Während der Dreharbeiten habe ich über die Beziehung zu meinen Eltern nachgedacht. Dabei kam ich zum Schluss, dass Eltern ihrem Kind meist nicht so viel Aufmerksamkeit widmen müssen. Obwohl dies einigen Kindern wehtun mag, meinen die Eltern das nicht böse. Es bedeutet auch nicht, dass sie ihr Kind nicht lieben. Es ist einfach das Leben. Man muss seine Eltern begreifen und ihnen vergeben. Für mich persönlich hatte der Film genau diese Bedeutung, also eine Art Psychotherapie. Wann immer ich an meinen Filmen arbeite, ist es wichtig, dass sie ein für mich persönliches Thema haben.“
Unmittelbare Nähe dank Handkamera
Die Puppen für den Streifen bestehen aus Holz und Toilettenpapier. Inspiration dafür fand Daria Kashcheeva bei tschechischen Karnevalsmasken. Sie wählte eine atypische Animationstechnik, wobei sie den Augenausdruck der Puppen nachgezeichnet hat. Bei den eigentlichen Dreharbeiten nutzte sie eine für einen Puppenfilm innovative Technik: Sie drehte mit einer Handkamera, wie es normalerweise bei Spielfilmen üblich ist. Diese Methode war sehr zeitaufwändig. Manchmal entstanden nur etwa acht Sekunden Film pro Tag:
„Die Handkamera unterstreicht die Atmosphäre des Films. Für mich war es wichtig, dass der Zuschauer tiefer in die Handlung eintaucht und sich mit den Charakteren identifiziert. Die Handkamera sorgt in einem Spiel- oder Dokumentarfilm meiner Meinung dafür, dass der Zuschauer das Gefühl hat, mitten im Film und zusammen mit den Figuren zu sein. Ich war auf die Idee gekommen, dies in einem Animationsfilm auszuprobieren. Technisch hat sich alles sehr kompliziert gestaltet, aber mit dem Ergebnis bin ich zufrieden. Mir gefällt, welchen Eindruck der Film auf die Zuschauer macht.“
Soweit die Studentin der Filmhochschule in Prag. Ihre Bachelor-Arbeit hat mehr als 50 Auszeichnungen in der ganzen Welt bekommen. Es sei für sie alles andere als einfach gewesen, mit ihrem Film in relativ kurzer Zeit über 90 Festivals zu besuchen, sagt Kashcheeva. Die jetzigen Corona-Zeiten sehe sie daher als Gelegenheit, sich verstärkt auf ihren nächsten Film konzentrieren zu können. Dabei plant die Regisseurin erneut etwas Experimentelles: Und zwar will sie die Puppenanimation mit der Pixilation kombinieren und mittels dieser Animationstechniken lebendige Schauspieler bewegen.