„Von Michelangelo bis Callot.“ Nationalgalerie Prag zeigt Graphikkunst des Manierismus
Zum ersten Mal überhaupt ist dieser Tage ein Originalwerk von Michelangelo Buonarotti in Tschechien zu sehen. Seine Zeichnung hängt in der Ausstellung „Von Michelangelo bis Callot. Die Kunst der manieristischen Graphik“, die an die 200 Werke aus europäischen Kunstzentren des 16. Jahrhunderts präsentiert. Sie ist das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit zwischen der Nationalgalerie Prag und dem Musée du Louvre in Paris.
Der Manierismus ist in Italien aus den Prinzipien der Hochrenaissance hervorgegangen, die auf der Suche nach Harmonie und idealen Proportionen beruhten. Die manieristischen Werke zeichnen sich durch raffinierte Eleganz und eine reiche Vorstellungskraft aus, gleichzeitig enthalten sie aber auch versteckte Bedeutungen und Symbole. Xavier Salmon, der Kurator des Musée du Louvre, erläutert den Begriff:
„Der Manierismus ist eine Strömung, die sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entwickelte. Er fügte sich in die Kunst der Renaissance ein mit ihrem Interesse an der menschlichen Figur. Der Manierismus lehnte sich an Michelangelo an und die Weise, wie er den Körper darstellte, wobei er die sogenannte Schlangenlinie einsetzte. Diese verzerrte den Körper, blieb aber dennoch sehr realitätsnah. Die Künstler waren von dieser Neuheit beeindruckt, lösten sich aber allmählich von der Realität. Raffael war noch sehr stark in der Wirklichkeit verwurzelt, er zeichnete und malte, was er sah. Die manieristischen Künstler veränderten hingegen diese Wirklichkeit. Sie schufen Körper, bei denen die Eleganz in der Kunst der Linie, der Position und der Farbe lag. Später trat wieder eine Rückkehr zur Realität ein, diese kam aus Italien mit Persönlichkeiten wie Caravaggio.“
Subjektivität und Phantasie
Die Ausstellung in Prag präsentiert Werke von Meistern der Kunstgraphik nach Vorlagen von Michelangelo, Raffael, Jan Brueghel, Hans von Aachen, Bartholomäus Spranger und vielen anderen großen Künstlern. Graphische Werke von Virtuosen der Kupferstichkunst wie Parmigianino, Cornelis Cort, Hendrick Goltzius, Aegidius Sadeler, Jacques Callot und vielen anderen sind zu sehen. Die Kunsthistorikerin Blanka Kubíková hat die Schau kuratiert:
„Die Ausstellung ist in neun Kapitel unterteilt. Die ersten beiden zeigen die Ausgangspositionen im Schaffen der bedeutendsten Renaissancekünstler, Michelangelo und Raffael. Im weiteren Teil wird die Veränderung der Komposition erörtert. Vier Kapitel sind dann wichtigen Themen der manieristischen Kunst gewidmet – die symbolische Ausdrucksweise, Landschaftsdarstellung, die Darstellung von großen und aufwendigen Festen jener Zeit und letztlich die Verbindung von Wissenschaft, Bildungskraft und Aberglaube sowie das Staunen über die sich öffnende Welt. Und den Abschluss bildet das Kapitel ‚Goldene Zeit der Graphik‘, in dem einzelne Techniken und hervorragende Werke der Graphik-Kunst vorgestellt werden.“
Goldene Zeit der Graphik
Die neuen künstlerischen Prinzipien verbreiteten sich dank der Graphik sehr schnell. Im 16. Jahrhundert erreichte diese zudem eine technische und künstlerische Perfektion und begann sich auszuweiten. Dadurch konnten sich die Menschen mit Kunstwerken bekanntmachen, die sich sonst weit entfernt befanden und schwer zugänglich waren. Die künstlerische Technik der Graphik war in der Lage, berühmte Werke wie die Fresken Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle, die Gemälde Raffaels, die prächtige Dekoration des französischen königlichen Schlosses Fontainebleau, die Gemälde Parmigianinos und wichtige Malereien vieler anderer Künstler perfekt zu reproduzieren. Die graphischen Blätter hatten aber auch ihren eigenen künstlerischen Wert. Das erste Ausstellungskapitel ist Michelangelo gewidmet, wie Blanka Kubíková zeigt:
„Für den Manierismus war Michelangelos Freske des Jüngsten Gerichts am wichtigsten, die die Altarwand in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan ziert und 1541 vollendet wurde. Schon bald nach der Enthüllung entstanden die ersten Kopien des Werkes – zunächst Zeichnungen, aber bald auch Graphiken. Bis dahin wurden auf Graphiken nicht die ganzen Gemälde dargestellt, sondern nur einzelne Figuren. Beim Jüngsten Gericht war man aber nun daran interessiert, die gesamte Komposition zu zeigen. Denn das Werk wurde schnell sehr bekannt. Überall wurde darüber gesprochen, kaum jemand konnte aber die Sixtinische Kapelle betreten.“
Michelangelo
Ein großformatiges Foto der Freske führt die Besucher in die Prager Ausstellung ein. Daneben werden mehrere Graphiken gezeigt, die dieses Werk kopierten. Außerdem bietet die Schau eine einzigartige Gelegenheit, eine Zeichnung von Michelangelo Buonarroti selbst zu sehen. Die Studie für die Wiederauferstehung Christi ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie der Künstler die Figur darstellte. Das Bild wurde aus dem Musée du Louvre geliehen und ist das überhaupt erste Originalwerk des berühmten Italieners, das in Tschechien zu sehen ist:
„Michelangelo war für den Manierismus von großer Bedeutung. Er war zwar noch ein Künstler der Renaissance, aber deren Grundsatz, dass die Realität in der Kunst auf eine vollkommene Weise nachgebildet werden solle, war ihm zu wenig. Die Kenntnis der Perspektive und der Anatomie reichten ihm zufolge nicht aus. Das Werk sollte etwas mehr enthalten, und zwar das künstlerische Genie: eine Kraft, die den Künstler antreibt. Dieser Ansatz war für den Manierismus, in dem die Subjektivität und Phantasie vorrangig waren, sehr inspirierend.“
Der Manierismus entwickelte sich an mehreren Orten Italiens, der Niederlande, Deutschlands, Frankreichs, aber auch in Böhmen. Blanka Kubíková:
„Der Hof Rudolfs II. in Prag war eines der Hauptzentren des Manierismus um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Hier waren vor allem Maler, Bildhauer und Kunsthandwerker tätig. Aber seit 1597 wirkte hier auch der hervorragende Kupferstecher Aegidius Sadeler. Er arbeitete an vielen Aufträgen für den Kaiser. Die Ausstellung zeigt seine schöne Graphik mit der Abbildung des Wladislaus-Saals auf der Prager Burg. Auf dem Bild ist zu sehen, dass Sadeler dort sogar einen Laden hatte, in dem er die Graphiken verkaufte.“
Künstler am Hofe Rudolfs II.
Mit den Künstlern vom Hofe Rudolfs II. arbeiteten zudem zahlreiche Kupferstecher zusammen, die anderswo in Europa lebten, hauptsächlich die Holländer Hendrick Goltzius und Jan Muller. Auf ihren Kupferstichen wurden Werke abgebildet, die in Prag geschaffen wurden. Wie etwa die Skulpturen von Adrian de Vries, die Jan Muller in seinen Graphiken zeigte:
„Obwohl das Reisen im 16. Jahrhundert nicht einfach war – zum Beispiel dauerte es zwei Monate, von Prag nach Rom zu kommen –, gab es einen regen künstlerischen Austausch. Von Prag wurden etwa Zeichnungen von Kunstwerken nach Amsterdam geschickt, und von dort Entwürfe für Kupferstiche zurückgeschickt. Auf diese Weise war es möglich, auch in der Ferne solche Kupferstiche anzufertigen.“
Am Hofe Rudolfs II. entwickelte sich insbesondere die Landschaftsmalerei, die ein ziemlich neues Kunstfach war. Vor der Zeit des Manierismus wurde die Landschaft zwar auch dargestellt, aber als Ergänzung eines Figurenmotivs. Im 16. Jahrhundert geriet die Landschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit und wurde zum eigenständigen Stoff. Eine Gruppe von Landschaftsmalern, bei der man von einer Schule sprechen kann, war in Prag tätig. Die Kunsthistorikerin und Leiterin der Graphiksammlungen der Nationalgalerie, Alena Volrábová, weiß mehr:
„Sie schufen Einblicke ins Waldinnere. Es handelt sich vor allem um Roland Savery und Pieter Stevens. Sie arbeiteten auch an Vorlagen für Graphiken, vor allem für Aegidius Sadeler. Er war in der Lage, das Lichtspiel, das in der Natur zu sehen war, in eine Graphik umzusetzen. Diese Künstler gingen selbst in die Natur, um diese nachzubilden. Dies brachten sie auch zum Ausdruck, indem sie sich selbst, sitzend und zeichnend, auf den Bildern darstellten. Allerdings haben sie nicht genau das gezeichnet, was sie gesehen haben, sondern ergänzten es, um die gewünschte Komposition und die ideale Landschaft zu erreichen.“
Landschaft im Fokus
Das 16. Jahrhundert gelte als die Goldene Ära der Graphik, betont Kuratorin Blanka Kubíková:
„In dieser Zeit schritt die Graphik-Kunst deutlich voran. Die Künstler waren sehr erfinderisch und probierten neue Möglichkeiten aus.“
Beispiele für Ätzradierungen, Kupferstiche oder etwa den für Manierismus typischen Clair-obscur-Holzschnitt belegen die Behauptung.
Die Schau in der Wallenstein-Reithalle umfasst Werke aus dem Bestand der Nationalgalerie Prag, aber auch Leihgaben aus vielen bedeutenden Institutionen und Privatsammlungen. Neben dem Musée du Louvre sind es unter anderem die Bibliothèque nationale de France, die Albertina in Wien, das Kunsthistorische Museum in Wien und das Rijksmuseum in Amsterdam. Die Ausstellung ist das Ergebnis einer engen Kooperation zwischen der Nationalgalerie Prag und dem Musée du Louvre in Paris. Xavier Salmon:
„Die beiden Institutionen arbeiten schon lange zusammen. Wir tauschen regelmäßig Werke im Rahmen von Ausstellungen aus. Es ist nicht das erste Mal, dass Bestände aus dem Louvre in Prag gezeigt werden. Erstmals wurden aber so viele Werke ausgeliehen. Diese Partnerschaft führte dazu, dass wir bei diesem Projekt sehr großzügig waren. Unsere Prager Freunde sind hingegen sehr großzügig bei der Ausstellung, die nächstes Jahr im Louvre eröffnet wird. Sie wird sich mit der Art und Weise befassen, wie die Natur von den Künstlern am Hofe Rudolfs II. wahrgenommen wurde. Es wird also keine Wiederholung dieser Ausstellung in Prag sein.“
Die Graphiken sind sehr sensible und zerbrechliche Werke. Um den Verfall des Papiers, das der Träger dieser Kunstwerke ist, zu verhindern, können sie nicht länger als drei bis vier Monate ausgestellt werden. Die Ausstellung „Von Michelangelo bis Callot. Die Kunst der manieristischen Graphik“ ist bis zum 11. August in der Reithalle des Wallensteinpalastes in Prag zu sehen.